Fragen zur Zivilcourage?

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Wenn man daran glaubt, dass Orte nicht nur etwas über ihre Funktion erzählen, sondern vor allem über die Zeit, die Menschen, die dort leben und auch über die Gesellschaft – wenn man daran glaubt, ist dieser Ort hier das beste Beispiel. Nicht umsonst wurde er tatsächlich vor vielen Jahren zum Ausgangspunkt meines Nachdenkens über Hoy und seine Kinder, also über uns.

WK VI, erbaut 1964-65, erweitert in den 70er und 80er Jahren. Die für die Zeit typischen Wohnhäuser, mit viel Grün (damals noch nicht ganz so viel wie heute, da es fast nur noch Grün gibt), Spielplätze, Wäschestangen, überall spielende Kinder. Eine „Koofhalle“ für den Alltag. Eine Wohngebietsgaststätte mit Weinstube „für gut“. Plätze mit Skulpturen, viel Kunst, die somit auch zum Alltag gehört. Ein Rosarium, das die Bürger selbst in freiwilligen Aufbaustunden errichten. Es soll eine schöne Stadt werden. Und eine schöne Gemeinschaft. Es geht um Zukunft. Genau diesen Gedanken und die Utopie einer Zukunft, die von WK VI direkt ins Universum führt, findet sich hier: Die Schule, die hier wie in jedem Wohnkomplex errichtet wird, bekommt den Namen German Titow, eines sowjetischen Kosmonauten. So wie alle Straßen im WK nach Kosmonaut*innen – denn auch Walentina Tereschkowa wird bedacht – und Pionieren der Luft- und Raumfahrt benannt sind.

Und wie zur Bestätigung, dass nicht nur die Lausitzer Heide und das WK VI unser sind, sondern auch das Universum, wird direkt neben der Schule ein Planetarium errichtet, ebenfalls in freiwilligen Aufbaustunden. Dieser Fakt rührt mich immer noch sehr: In einer absolut unfertigen Umgebung, in der man – wir erinnern uns – noch lange durch Schlamm waten musste, weil Wege und Plätze nur provisorisch angelegt waren, in der Wiesen und Bäume erst gepflanzt werden mussten und in der es an vielem fehlte, was eine Ansammlung von Gebäuden zur Stadt macht. Genau hier bauen sie ein Planetarium. Und sie bauen es auf einen Schulhof. Das Universum so verfügbar wie die Sportgeräte in der Turnhalle oder der Bunsenbrenner im Chemieraum. Weil es mit der Zukunft dann aber doch nicht so schnell zu gehen scheint, vervollständigt irgendwann der Intershop das Ensemble WK VI. Wie ein Ausblick in eine Zukunft, in der nicht nur das Universum jederzeit verfügbar sein würde, sondern auch Jeans und Tintenkiller.
Und genau an diesem Ort stirbt, knapp dreißig Jahre nach Erbauung des WK, ein Mensch. Überall und täglich sterben Menschen, auch junge und viel zu oft sinnloserweise. Warum müssen wir also an diesen einen Tod, der sich genau hier ereignete, erinnern?

Auch darüber kann uns der Ort einiges erzählen. Im Februar 1993 offenbart er, dass hier die Zukunft gegen Vergangenheit getauscht wurde und dass schon die Gegenwart knapp ist und sich aufzulösen scheint. Die stets so liebevoll gepflegten Grünanlagen fangen an zu vergammeln. Die Menschen haben andere Sorgen. Keine Familie hier, die nicht von Betriebsschließungen und Arbeitslosigkeit betroffen ist. Die Gaststätte samt Weinstube geschlossen. Die Verheißungen der Zukunft, die Glückliche mit Westgeld früher wenigstens im Intershop genießen durften, gibt es jetzt für alle in der Kaufhalle. Doch die wird demnächst schließen, und es hat sich rausgestellt, dass das mit dem Westgeld auch nicht die Lösung war. Dieser Ort ist auf direktem Weg, ein Nicht-Ort zu werden. Nicht-Orte haben keine Identität und keine Geschichte. Vor allem: An Nicht-Orten wohnen keine Menschen. Dies hier aber ist ein Nicht-Ort mit Menschen. Und das macht diesen Mord an Mike Zerna so furchtbar, und auch deshalb müssen wir uns daran erinnern.

Es gab hier Jugendliche, die den Ort umfunktioniert hatten zu einem der letzten Treffpunkte für Langhaarige in der Stadt. Man musste damals nicht mal links sein, um hier überall auf die Fresse zu kriegen. Es reichten lange Haare, ein Vollbart, vielleicht noch eine Nickelbrille oder das falsche T-Shirt. Die Wände in der gesamten Stadt – man kann es sich heute kaum noch vorstellen, aber es gibt Fotos davon – übersät mit Hakenkreuzen, SS-Runen und Nazi-Parolen. Die waren geblieben, als man alle Ausländer anderthalb Jahre zuvor aus der Stadt geschafft hatte. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sich die Stadt fest in den Händen der Rechten befand. Die sich hier so sicher fühlten, dass sie nachts einen Klub überfallen, einen jungen Mann zusammenschlagen und einen Kleinbus auf ihn wälzen konnten. Selbst vorbestrafte Gewalttäter waren beteiligt – so sicher konnten sie sich fühlen. Was hat das aber mit uns zu tun? Wir sind ja keine Rechten, werden die meisten hier sagen. Oder aber: Ich war ja damals gar nicht da – denn der große Exodus hatte schon begonnen.

Und das ist der Punkt: Abgesehen von den schweren inneren Verletzungen, die man bekommt, wenn man unter einem Bus liegt – Woran starb Mike Zerna?
In der Sächischen Zeitung vom 20. Februar 23 gibt es einen Beitrag über ihn. Das ist gut und schon mal viel mehr, als in vielen vergangenen Jahren. Aber entscheidend ist ja auch, was man schreibt. Ich lese dort:

„Mike Zerna – von seinen Freunden Zander gerufen – wurde Opfer einer Atmosphäre, in der Musik für eine zwar prozentuale Minderheit von Hoyerswerdaer Jugendlichen in aber doch beträchtlicher Zahl Anlass für bitterernste Auseinandersetzungen wurde. Es waren die Tage, als man „Glatzen“ und „Zecken“ auch an weißen beziehungsweise roten oder schwarzen Schnürsenkeln erkannte. Dass Leute mit wenig Lebenserfahrung nach 1990 auf der Suche nach neuem Sinn im Leben gewählte, quasi religiös vertretene und als Begründung für Gewalt benutzte Weltanschauungen vor sich hertrugen, bewertete das Tageblatt schon damals mit Vorsicht.“


Hier wird – wie so oft – rechts und links gleichgesetzt, was bekanntermaßen schon Ernst Jandl mit Vorsicht bewertete. Das ist gefährlich, denn bis heute sind es rechte Gewalttäter, die eine blutige Spur mit zahlreichen Todesopfern durch die jüngere deutsche Geschichte und eben auch durch diese Stadt ziehen. Vor allem aber muss man eines ganz deutlich sagen – und das sollte auch eine Presse tun, die ihrer Verantwortung als vierte Gewalt gerecht wird: Nein, Mike Zerna wurde nicht „Opfer einer Atmosphäre, in der Musik (…) Anlass für bitterernste Auseinandersetzungen wurde“. Mike Zerna wurde Opfer von Nazis, von rechter Gewalt!

Wie wichtig es ist, Dinge beim Namen zu nennen, zeigte sich schon damals, als Hakenkreuze an Wänden in der Presse (und dann auch in der Öffentlichkeit) immer nur als „Schmierereien“ und die Täter als „Schmierfinken“ bezeichnet wurden und rechte Gewalttäter wahlweise als „jugendliche Randalierer“ und „randalierende Jugendliche“. Immer nach dem Motto „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.“ Hier aber ging es um Nazis, um eine menschenverachtende Ideologie, um Hass und die Bereitschaft zu morden. Mike Zerna wurde auch ein Opfer dieses schweren Fehlers, Dinge nicht beim Namen zu nennen.

Und genau daraus erwuchs eine Gleichgültigkeit in der Stadtgesellschaft, deren Opfer er genauso wurde. Was ist das für eine Stadt, in der man Busse auf Menschen kippen kann? In der ein Mensch geraume Zeit unter dem Bus liegt, ohne dass ihm geholfen wird? Denn wie schon gesagt: Dies war und ist ein Ort mit Menschen. Warum hat keiner der Anwohner rechtzeitig die Polizei gerufen? Ist ja nur Pack, das sich schlägt und verträgt. Selbst schuld. Dieses „selbst schuld“ kenne ich selbst noch, nur zu gut. Wenn man etwa einen Krankenwagen rufen wollte, weil wieder jemand zusammengeschlagen war. Was hast du auch lange Haare? Was musst du mit deinen langen Haaren auch noch nachts auf die Straße gehen? Was hörst du auch die falsche Musik (um die es ja angeblich ging)? Selbst schuld.

Und was ist das für eine Stadt bzw. was ist das für ein Land, in dem Polizei und Rettungskräfte erst eine halbe Stunde nach dem Notruf eintreffen? Auch das mit Sicherheit kein bedauerlicher Einzelfall, sondern Normalität zu der Zeit. Ich selbst habe es damals oft genug erlebt – wenn die Glatzen z.B. unseren Klub umzingelt hatten und wir versucht haben, die Polizei zu unserem Schutz zu rufen. Selbst schuld, wenn du in einen Klub gehst und z.B. einen Film ansehen willst.

Übrigens: Wer wurde jemals dafür zur Verantwortung gezogen? Und wer hat je die Frage gestellt, wie und mit welcher Wortwahl sich unsere Lokalpresse und wir rechte Gewalt bezeichnen?
„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit“ hat Elie Wiesel gesagt und mit Liebe Humanität gemeint. Elie Wiesel wusste, wovon er sprach, er war Überlebender des Holocaust. Es war nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit, wegen derer es geschehen konnte, dass 6 Millionen Juden ermordet wurden. Und es war nicht einfach der Hass einer Handvoll Täter, der Mike Zerna zum Opfer fiel. Es war auch die Gleichgültigkeit einer Stadtgesellschaft. Die nicht hinsah. Die Dinge nicht beim Namen nannte. Die nicht half. Und durch die kein Aufschrei ging.

Diese Gleichgültigkeit hält bis heute an – und auch davon erzählt dieser Ort, an dem nichts an Mike Zerna erinnert. So wie sich auch auf der Homepage der Stadt und in keiner ihrer zahlreichen Facebook-Gruppen (die z.B. schier durchdrehen, wenn irgendwo ein Kätzchen verloren geht), wenn es nirgendwo dort auch nur den leisesten Hinweis auf Mike Zerna und das Gedenken an ihn gibt. So wie kein offizieller Vertreter des Rathauses es für wert befindet, zu so einem Gedenken zu erscheinen oder sich auch nur dazu äußern. Was für eine Stadt ist das? Und: In was für einer Stadt, in was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Aber Orte werden von Menschen gemacht. Und wir sind ja hier. Es sind Leute gekommen, um an Mike Zerna und seinen Tod zu erinnern. Vielleicht gelingt es uns, diesen Ort wieder zu einem der Utopie und des Anfangs zu machen. Vielleicht ist Erinnerung ein Anfang.

Grit Lemke

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